Der Abschlussdokument-Fetischismus wird die Abrüstung nicht voranbringen
Es ist ein Desaster, dass die NVV-Konferenz in einer Zeit scheitert, in der die Gefahr einer atomaren Katastrophe größer ist als seit Jahrzehnten und es dringend Zeichen der Entspannung gebraucht hätte. Das Fehlen einer noch so unbedeutenden gemeinsamen Grundlage der Atomwaffenstaaten zeigt uns einmal mehr, dass wir nicht auf sie vertrauen können.
Es ist einerseits anzuerkennen, dass es ohne den Nichtverbreitungsvertrag (NVV) vermutlich einige mehr als die bestehenden neun Atomwaffenstaaten geben würde, und die Gefahr eines Atomkrieges damit noch höher wäre. Der fehlende Minimalkonsens bedeutet aber andererseits, dass die Vertragsstaaten sich nicht einig darin sind, wie der Vertrag an manchen Stellen zu verstehen ist, wie sie weiterarbeiten wollen, oder geschweige denn welche Themen überhaupt relevant sind für die Arbeit an einer Welt ohne Atomwaffen.
Es ist keine Auflösung des Vertrages, dass es kein Abschlussdokument gibt. Dieser besteht und wird weiter als Rahmen für internationale Bemühungen zur atomaren Abrüstung dienen. Aber dass es nun seit 12 Jahren keine Einigkeit der Vertragsstaaten gibt, bedeutet auch, dass dieses Forum nicht fähig oder willens ist, auf die Herausforderungen unserer Zeit zu reagieren. Die Spielregeln für den Umgang mit der immerwährenden Gefahr atomarer Weltvernichtung sind nicht mehr aktuell. Die Technik hat sich weiterentwickelt, neue Trägersysteme sind geschaffen worden, Allianzen und politische Rahmensysteme haben sich verschoben. Die Grundaufgabe des Vertrages, die Verbreitung von Atomwaffen zu verhindern und sie über gegenseitiges Vertrauen und Kontrolle überflüssig zu machen, kann er nicht mehr zeitgemäß erfüllen. Mit Einigungen von vor 12 Jahren (die außerdem nie umgesetzt wurden) finden wir keine Antworten auf die aktuell mögliche Ausweitung der nuklearen Teilhabe, die Aufrüstung der Atomwaffenstaaten oder die Weiterverbreitung von nuklearer Technik auf Kriegswaffen. Der Vertrag und das Gesprächsforum bleiben bestehen und relevant, das haben alle Akteur:innen betont. Aber ihre Relevanz sinkt deutlich, die Atomwaffenstaaten schaufeln mit ihrer Renitenz ihr eigenes und unser aller Grab.
Das vorgeschlagene Abschlussdokument enthielt zwar aufgrund der mutigen und persistierenden Arbeit der Mehrheit aller Staaten weltweit einige gute Absätze zu den humanitären Auswirkungen von Atomwaffen, die selbst in ihrer Einfachheit leider schon Forschritte gewesen wären. Für unsere menschliche Sicherheit und unsere Zukunft brauchen wir aber auch Verpflichtungen und konkrete Schritte der Atomwaffenstaaten, die zur Abrüstung führen. Solche waren auch in dem Entwurf des Abschlussdokumentes nicht enthalten, selbst eine Annahme dessen wäre also nicht genug gewesen.
Das NVV-Regime ist schon vorher gescheitert
Das Fehlen eines Abschlussdokumentes der Konferenz ist kein Scheitern, es ist ein Offenbaren. Scheitern tut das NVV-Regime, wenn es die Atomwaffenstaaten immer wieder darin bestätigt, nicht über Abrüstung reden zu müssen. Scheitern tut der NVV, wenn es keine gemeinsamen Antworten auf nukleare Drohungen gibt, wenn die Sicherheit der Menschen weltweit nicht berücksichtigt wird, wenn wiederholt die Realitäten der Opfer nuklearer Tests zurückgewiesen werden. Gescheitert ist der NVV in dem Moment, als er es geschafft hat die rhetorische, quantitative und qualitative Aufrüstung aller Atomwaffenstaaten zu legitimieren, anstatt zu stoppen.
All das hätte mit einem Konsens der Staaten und einzuhaltenden Selbstverpflichtungen gerettet werden können. Dieser August war die Möglichkeit, einen Raum für Deeskalation und Abrüstung zu schaffen. Es war ein Zeitfenster, sich auf die einfache Botschaft zu besinnen, dass es nichts gefährlicheres und unrealistischeres gibt, als den Wunderglauben dass Atomwaffen nie wieder eingesetzt werden.
Die Atomwaffenstaaten sind nicht erst jetzt am 26. August daran gescheitert das einzusehen. Sie haben lediglich mal wieder offenbart, dass sie das gar nicht wollen. Dass sie diesen Raum der potenziellen Deeskalation für gegenseitige Angriffe und Provokationen nutzen, dass sie alle Menschen immernoch als Geiseln ihrer Machtphantasien halten, dass es keinen Sinn ergibt einfach auf den guten Willen der Atomwaffenstaaten zu warten.
Und genau aus dieser Offenbarung erwächst die Stärke des Atomwaffenverbotsvertrages (AVV). Ein Ort internationaler Diplomatie, an dem Kooperation der Drohung und Provokation vorwiegt, und das obwohl sich die Vertragsstaaten bei vielen Themen überkreuz liegen. Es ist ein Ort an dem verstanden wurde, dass es um das Überleben von Millionen Menschen geht und nicht die geschädigten Egos einiger Machthungrigen. Die Arbeitsweise und Sprache sowie auch die Taten, die daraus folgen, sind beim Atomwaffenverbot konstruktiver, partizipativer, menschenfreundlicher und emanzipatorischer, als es die des NVV je sein werden. Aus der Offenbarung, dass der NVV nicht mehr angemessen und allein in der Lage ist, auf die nuklearen Bedrohungen unserer Zeit zu reagieren, ergibt sich die Dringlichkeit, den AVV zu stärken. Deutschland muss einen Erstschlag von seinem Territorium ausschließen, den AVV finanziell und politisch unterstützen, ihm beitreten und seine nukleare Teilhabe beenden. Das würde neuen Raum zur Deeskalation des zweiten Kalten Krieges öffnen, der sich mit dem Ende der NVV-Konferenz erstmal geschlossen hat. Sicherheit vor Atomwaffen gibt es nur ohne Atomwaffen.
In der Konferenz sollten alle Themen behandelt werden, bei denen es um nukleare Sicherheit in Verbindung mit Außenpolitik und Militär geht. Deswegen war es berechtigt und absolut notwendig, die besorgniserregenden Vorgänge rund um Europas größtes AKW Saporischschja anzusprechen. Doch die anwesenden Staaten konnten sich nicht einmal auf eine gemeinsame Realität hinsichtlich der Bedrohungslage einigen und deswegen auch keine Schritte zur Sicherung unternehmen. Dass der Konsens am Ende an einer Formulierung gescheitert sein soll, die ukrainische Kontrolle über das AKW fordert, ist eine vorgeschobene aber vorhersehbare Ausrede. Nun darüber zu reden, dass dies der Stein des Anstoßes gewesen sein soll, verschleiert, dass die Atomwaffenstaaten und der Rest der Welt zu viel grundlegenderen Fragen auch keinen Konsens finden und sie nicht bereit sind, ihre atomare Gewalt von allein aufzugeben. Der Verweis auf die Situation im AKW Saporischschja war richtig, weil sie der Gefahr einer Atombombe gleicht und damit gelöst werden muss. Die Art und Weise wie dies geschehen ist, hat der Gefahr rund um das AKW jedoch nicht geholfen. Russland ist allein verantwortlich dafür, dass überhaupt eine Gefahrenlage entstanden ist und kann sich der Verantwortung darum nicht entziehen. Mit Opferumkehr und Gaslighting versuchen sie aber immer wieder der Öffentlichkeit einen Streitapfel hinzuwerfen, an dem unser Protest gegen die gemeinsame Geiselnahme der Atomwaffenstaaten gespalten werden soll. Solches Verhalten sehen wir aktuell vermehrt, aber nicht nur von Russland. Solche Äpfel ermöglichen es den westlichen Atomwaffenstaaten auch, sich als verantwortungsbewusst und besorgt um das Gemeinwohl Aller darzustellen, nur weil die russische Regierung sich so unglaublich verachtend gegenüber Regeln der Menschlichkeit und Vernunft verhält, dass die fortwährende atomare Drohung der westlichen Staaten vor diesem Hintergrund als legitim und gut erscheint. Das müssen wir zurückweisen, denn jede Art von atomarer Gewalt ist unmenschlich, egal von wem sie kommt.
Alle Atomwaffen sind menschenverachtend
Die Verantwortung für die mangelnde Umsetzung des NVV-Vertrages in den vergangenen Jahren und das Scheitern des Konferenzkonsens tragen alle Atomwaffenstaaten und ihre Verbündeten. Sie verletzen ihre Verpflichtungen aus dem Vertrag massiv, indem sie atomar wieder aufrüsten. Die Bundesregierung ist dabei Teil des Problems und nicht Teil der Lösung. Kaum im Amt, hat die Ampelkoalition den Kauf des neuen Atombombers F-35 beschlossen, mit dem die deutsche Luftwaffe im Ernstfall Atombomben abwerfen können soll. Sie lässt die qualitative Aufrüstung der hier lagernden US-Atombomben zu, deckt ihre Verbündeten auf dem internationalen Parkett und verweigert sich der umfassenden Zusammenarbeit im Atomwaffenverbotsvertrag.
Der Kommentar ist in der ZivilCourage 3/2022 erschienen.
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